CIRCLING REALITIES im BASF-Feierabendhaus
CIRCLING REALITIES im BASF-Feierabendhaus
Sitzen und Zuhören war gestern. Die altbekannte Bühne wird abgeschafft, hier gibt es keinen abgetrennten Zuschauerraum. Das Orchester im Treppenhaus wirft alle Regeln der klassischen Konzertformate aus dem Orchestergraben und findet neue Wege, um Menschen von Klassikmusik zu begeistern.
Lichtprojektionen bewegen sich durch den Raum und formen Kreise, in welchen wir uns bewegen. Vereinzelt tanzen Menschen, andere beobachten die Inszenierung. Ich bin auf dem Konzert CIRCLING REALITIES der Gruppe Orchester im Treppenhaus. Das Orchester ist bekannt für die Inszenierung von Licht und Musik und das Schaffen neuer, experimenteller Konzertformate. Mit langsamen Schritten folge ich den runden Mustern auf dem Boden, während meine Augen den Musikern und Lichtprojektionen durch den Raum folgen. Es bilden sich immer wieder neue Konstellationen zwischen Publikum und Musiker*innen. Mal steht ein Geiger zum Anfassen nah direkt neben dir, mal befinde ich mich in einer sich bewegenden Menschenmasse. Dann tut sich ein Kreis inmitten der Zuschauer auf, in dem ein Trompeter kniend sein Solo spielt. Unglaublich schöne Formen und Konstellationen bilden sich aus den sich durch den Raum bewegenden Menschen und Lichtern. Ich hätte gerne die Bewegungen aus der Vogelperspektive betrachtet, nur um alles einmal im Blick zu haben und das ganze Geschehen besser zu begreifen. Denn diese Art von Konzert ist mir neu. Jeder ist fast ständig in Bewegung, es gibt keine starren Formen. Kein Sitzen, kein Gähnen. Gegen Ende öffnen sich die einzelnen Kreise und die Zuschauer finden sich in einer großen Bubble zusammen – aus Distanz wird Nähe. Nach 45 Minuten entschwinden wir alle wieder aus dem parallelen Musikuniversum. Der Konzertsaal im BASF-Feierabendhaus wird nach und nach heller, das Publikum applaudiert noch lange und die Musiker*innen verbeugen sich vor dem begeisterten Publikum. Das Erlebnis werde ich noch lange gut in Erinnerung behalten. Begeistert von ihrem Konzertformat, stelle ich dem Orchester im Treppenhaus noch ein paar Fragen, die vom Konzertmeister Moritz Der-Nedden beantwortet werden.
HEY, WOLLT IHR EUCH KURZ VORSTELLEN?
Ich bin Moritz Ter-Nedden, Konzertmeister, also Geiger, im Orchester im Treppenhaus.
Wir sind ein 20-köpfiges Ensemble, das sich zum Ziel gemacht hat, klassische Musik in innovativen und experimentelle Formaten zu präsentieren. In Hannover, unserer „home base“ konzipieren und spielen wir inzwischen seit 17Jahren Jahren an ungewöhnlichen Orten für ein meist junges Publikum.
Ich bin in Bonn im schönen Rheinland aufgewachsen und spiele neben Projekten wie CIRCLING REALITITES vor allem Kammermusik und als Konzertmeister deutschlandweit in zahlreichen Ensembles.
WIE ENTSTAND DIE IDEE?
Die Idee, mit sich bewegenden Lichtkreisen ein musikalisches Format zu entwickeln, ist zu Beginn der Pandemie entstanden. Wir wollten die Not, Abstände einhalten zu müssen, zu einer Tugend machen und kreativ mit der nicht ganz einfachen Situation umgehen.
CIRCLES heißt das Vorläufer-Projekt von CIRCLING REALITIES, das sich neben den 4 genannten Konzipierenden auch Moritz Wappler von unserem Team ausgedacht hat und thematisiert das Spannungsfeld zwischen der damals allgegenwärtigen Vereinzelung und der Sehnsucht nach Nähe und Gemeinschaft.
Wo beim Vorläufer noch von Hand gesteuerte Lichtkreise ohne farbige Projektionen den Boden erhellten, haben wir bei CIRCLING REALITIES gesellschaftlichen Phänomenen wie Ausgrenzung, Konflikte, Filterblasen und Digitalität thematisiert und diese noch viel mehr über die visuelle Ebene erzählt.
Mit noSignal Studio haben wir den perfekten Partner, um unsere musikalische Dramaturgie mit den aufwendigen und kunstvollen Projektionen, die mit einer Vielzahl an Beamern von der Decke auf den Boden gestrahlt werden, zu verbinden.
WER UND WAS STECKT HINTER DER PRODUKTION CIRCLING REALITIES?
Hinter der Konzeption von CIRCLING REALITIES stecken vom Orchester vor allem vier Leute: Johanna Ruppert, Yannick Hettich, Thomas Posth und ich. Wir haben uns mit dem Videokunst-Kollektiv noSignal Studio für die Projektionen und Digitale Kunst zusammengetan und so ist das, was man auf der Bühne sehen kann, letztendlich zustande gekommen.
WAS GRENZT EUCH VON ÜBLICHEN KONZERTFORMATEN AB?
So viele konventionelle Konzertformate gibt es ja gar nicht, das Symphoniekonzert, der Opernabend, das Kammerkonzert. Die ähneln sich alle darin, dass es einen klar getrennten Bereich von Bühne und Publikum gibt. Wir versuchen bei unseren Formaten eine Nähe zum Publikum zu schaffen, also die oft vorhandene Trennung von Künstler:innen und Publikum aufzuheben. Inzwischen haben viele unserer Formate partizipative Elemente, wie z.B. bei CIRCLING REALITIES ein Publikum, das sich mit uns auf der Bühne bewegt, zum Teil mischt und einen Teil der Performance darstellt. Ein anderes von vielen Beispielen sind unsere persönlichen NOTFALLKONZERTE. Hier wird das Publikum dazu aufgefordert, sehr persönliche Dinge aufzuschreiben, auf die wir dann ganz individuell musikalisch eingehen.
HABT IHR EINEN SLOGAN, MIT DEM IHR ARBEITET?
Da kann ich nicht für alle sprechen, ich selber würde Arnold Schönberg zitieren, nicht weil sich alles in meinem Leben danach ausrichtet, aber weil ich das Zitat sehr mag: „Ich bin ein Konservativer, ich erhalte den Fortschritt“.
SIND NOCH WEITERE EXPERIMENTELLE KONZERTFORMATE GEPLANT?
Na klar. Wir müssen eher aufpassen, dass wir nicht zu viele Formate gleichzeitig entwickeln!
In der zweiten Jahreshälfte steht z.B. „KULT“ auf dem Programm: ein Versuch „das Konzert“ mit neuen Traditionen und Regeln zu erfinden.
WELCHEN HERAUSFORDERUNGEN MUSS SICH DIE KLASSIKSZENE STELLEN?
Ich glaube, die Herausforderung sind allen schmerzlich bewusst, ein jüngeres Publikum anzusprechen und dieses wunderbare traditionell gewachsene Kulturgut der „klassischen Musik“ weiterzutragen, ohne in einer musealen Pflege zu erstarren.
Bisher reicht es vielen noch, sich einzig auf die Musik zu konzentrieren, nach der Maxime: „Wenn ich nur gut genug spiele, kommen automatisch Menschen ins Konzert“. Ich glaube die Fragen „Für wen spiele ich da eigentlich? Was muss ich tun, damit die wunderbaren Inhalte, die die Musik zu bieten hat, auch wirklich ankommen?“ werden an Relevanz gewinnen.
WAS MACHT FÜR EUCH DEN UNTERSCHIED?
Für uns ist das etwas sehr besonderes. Es ist eine Mischung aus Herausforderung – man spielt auswendig, bewegt sich beim Spielen, hat eine gewisse Distanz und oft Publikum zwischen sich und den Mitspieler:innen, nimmt viel mehr vom Publikum wahr als sonst – und Erfüllung – man spürt sofort, ob die Musik bei den Menschen Emotionen erzeugt, es gibt eine totale Freiheit im Raum, wenn man von jeder Ecke mal gespielt hat und es entsteht eine Verbundenheit mit allen Menschen auf der Bühne, die ich so noch nicht erlebt habe.
Diese Mischung erzeugt einen Cocktail im Hirn, der schwer zu beschreiben ist. Vielleicht ein bisschen so, wie sich Extremsportler*innen fühlen.
WO UND WANN FINDEN EURE NÄCHSTEN KONZERTE STATT?
Wir haben einen sehr vollgepackten Terminkalender, am besten nachschauen unter: www.treppenhausorchester.de oder auf social media: insta: @orchester_im_treppenhaus
WOLLT IHR NOCH ETWAS LOSWERDEN?
Ein Dank an unser Publikum, das alle unsere teilweise verrückten Ideen mitmacht und sich oft aus der „comfort zone“ herausbegibt.
Text und Fotos: Wiebke Fuchs
About her: Sie arbeitet und schreibt seit August 2022 für das WOW-Team. Motiviert und engagiert stürzt sie sich in das Ludwigshafener Tag- und Nachtleben, um unseren Leser:innen von den vielen verschiedenen Angeboten in unserer City zu berichten. Denn seit rund einem Jahr wohnt und erkundet sie nun LU und hat festgestellt: Ludwigshafen ist WOW!